© Lichtbildkultur Martin Schlager

Interview: Das Reihenhaus im 21. Jahrhundert

Langweilig und bieder war vorgestern! Längst hat das Reihenhaus sein eingestaubtes Image abgelegt. Architekt Jürgen Radatz erklärt die zahlreichen Vorteile dieser etablierten Bauform und warum künftig vermehr auf das Reihenhaus gesetzt werden sollte.

4W: In Wien/Essling haben Sie neun Reihenhäuser geplant. Was waren die besonderen Anforderungen und wie sind Sie bei der Planung vorgegangen?

Jürgen Radatz: Der Eigentümer zweier Liegenschaften in der Schlachthammerstraße, die ARE Development GmbH, hat einen Wettbewerb ausgelobt, den ich mit meinem Beitrag gewinnen konnte. Die Reihenhäuser wurden vom Bauherrn explizit gewünscht, was ich sehr begrüßt habe, da ich überzeugt bin, dass diese Bauform in Wien viel zu wenig angeboten wird. Gerade in der Pandemie haben viele Stadtbewohner erkannt, welche Qualitäten ein Haus mit eigenem Garten bietet. Vor allem junge Familien mit Kindern ziehen in den „Speckgürtel“ von Wien, da der Geschoßwohnungsbau oder gar Wohnhochhäuser ihre Bedürfnisse in keiner Weise befriedigen. Der daraus resultierende Pendlerverkehr bringt für die ganze Ostregion Abgase, Stau und, speziell für Wien, einen massiven steuerlichen Verlust. Die Verkehrsbelastung und die dramatische Zersiedelung ganzer Regionen könnten drastisch reduziert werden, wenn man auch in Wien leistbare Alternativen in Form von kompakten Reihenhäusern mit Garten anbieten würde.

4W: Können Sie Eckdaten zu diesem Projekt in Essling nennen?

JR: Aufgrund von baurechtlichen Bestimmungen wurden die neun Reihenhäuser auf zwei Bauteile aufgeteilt. Zwischen den Wohnhäusern befindet sich ein ebenerdiges Nebengebäude mit Fahrrad- und Heizraum. Die Häuser liegen parallel zur Raphael-Donner-Allee. Zur Straße hin liegen die Stellplätze und der Zugang zu den Häusern.

Über einen kleinen und geschützten Vorgarten gelangt man in die Reihenhäuser. Auf der Straßenseite zeigen sich die Reihenhäuser relativ geschlossen, auf der Gartenfassade schützt ein zartes Holzspalier vor Einsicht in die raumhohen Verglasungen. Das Holzgerüst wird im Laufe der Zeit mit Pflanzen zuwachsen und gerade im Sommer für angenehme Kühle sorgen. Die Sichtschutzwände aus Beton im Garten wie auch im Dachgeschoß bieten den Bewohnern Privatsphäre.

Es wurden zwei Haustypen entwickelt. Der breite Haustyp mit 164 Quadratmetern kommt zweimal vor und liegt jeweils am südlichen und nördlichen Ende der Baukörper. Der schmale Haustyp mit 143 Quadratmetern kommt siebenmal vor und liegt im mittleren Teil der Häuser. Die Reihenhäuser sind sehr schmal und etwa 14 Meter tief.

Damit die innenliegenden Haustypen genügend Licht erhalten, wurde ein zentrales und von oben belichtetes Innenatrium entwickelt. Dieses Atrium verbindet die Geschoße miteinander und erlaubt die Kommunikation in alle Richtungen. Die Erschließungsflächen werden vom „Gang“ zur Galerie und das Oberlicht schafft eine helle und freundliche Atmosphäre. Mir war es sehr wichtig, dass die Häuser räumlich offen und großzügig sind. Fertiggestellt wurde das Projekt im November 2021.

Privatsphäre in der Reihenhaussiedlung: Die neuen modernen Einheiten verfügen jeweils über drei Stockwerke und eine großzügige Wohnfläche von bis zu 164 Quadratmetern. Die klare Abgrenzung durch Sichtbeton garantiert Ruhe trotz räumlicher Nähe. © Jürgen Radatz

4W: Wie sieht es mit der Sanierung beziehungsweise Adaptierung alter Reihenhaussiedlungen aus? Wie viel Potenzial sehen Sie darin?

JR: Die Adaptierung bestehender Wohn- und Reihenhäuser wird in den nächsten Jahren zu den wichtigsten Aufgaben für Architekten zählen. Ich habe prototypisch bereits mehrere alte Häuser aus den 60er-Jahren an die neuen Wohnbedürfnisse angepasst. Die Arbeit daran beschränkt sich dabei nicht auf thermische und energetische Fragen, die Sanierungen muss vor allem mit viel Verständnis für die Architektur umgesetzt werden, damit das Haus nicht einfach nur „dämmoliert“ wird. Der Erhalt und Weiterverwendung dieser Gebäude sind jedenfalls zu begrüßen und dem hemmungslosen Abriss, dem Verlust wertvoller „Grauer Energie“, vorzuziehen.

4W: Welche Rolle spielen für Sie die Aspekte „Barrierefreiheit“ und „generationenverbindend“ bei der Planung einer modernen Reihenhaussiedlung?

JR: Reihenhäuser müssen baurechtlich nicht barrierefrei ausgeführt werden. Diese Erleichterungen sind sinnvoll, da beispielsweise eine Verbindung der Geschoße mit einem Lift innerhalb einer Einheit in jeder Hinsicht unverhältnismäßig wäre. Um beim Beispiel Essling zu bleiben: Diese Reihenhäuser können bei Bedarf problemlos mit einem Treppenlift ausgestattet werden, und ermöglichen damit komfortables Wohnen bis ins hohe Alter.

4W: Sind dem Architekten einer Reihenhaussiedlung kreative Grenzen gesetzt?

JR: Die Kunst der Planung besteht darin, mit den Vorgaben des Baurechts, des Bebauungsplans und der ökonomischen Vorgaben so umzugehen, dass eine überzeugende Lösung gefunden wird.

4W: Welche Vor- und Nachteile sehen Sie in einem Reihenhaus?

JR: Reihenhäuser erreichen eine erstaunliche Dichte, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie im Geschoßwohnungsbau. Das sehe ich aber nicht prinzipiell als Nachteil. Eine zu hohe Dichte freut meistens nicht die Bewohner, sondern vor allem den Investor. Daher sollten vermehrt Widmungen erfolgen, die den verdichteten Flachbau ermöglichen. Die Vorteile dieser Bauform sind mannigfaltig: menschlicher Maßstab, hohe Identifikation der Bewohner mit den Häusern, Bezug zum Garten und damit zur Umwelt sind dabei nur die wichtigsten Schlagworte.

Wechselspiel zwischen innen und außen: Große Fensterfronten, Balkone, Terrassen und Gärten sorgen für viel Licht und genügend Aussicht. Besonders angenehm: Die Bewohner haben in jedem Geschoß einen Zugang zum Freien. © Jürgen Radatz

4W: Für wen eignen sich Ihrer Meinung nach Reihenhäuser und warum?

JR: Reihenhäuser sind meiner Meinung nach die ideale Wohnform für Familien mit Kindern, da sie das Wohnen mit Garten in einer ökonomisch und ökologisch sinnvollen Form ermöglichen. Diese Wohnform passt aber auch für breite Teile der Bevölkerung, die sich eine hochwertige Alternative in der Großstadt zur „Stangenware“ Geschoßwohnungsbau wünschen.

4W: Wie kann eine Reihenhaussiedlung nachhaltig und ökologisch gebaut werden?

JR: In der Regel sind Reihenhäuser niedriger als Geschoßwohnungsbauten und können daher viel einfacher aus ökologisch sinnvollen Materialien wie Holz oder Lehm gebaut werden. Die technischen Anforderungen sind geringer, die Maßnahmen für Aufzüge, Lüftungen, Brandschutz oder Schallschutz sind entweder gar nicht notwendig oder jedenfalls einfacher zu erfüllen. Das schlägt sich neben der Ökologie natürlich auch in den Baukosten nieder.

Wenn man bedenkt, dass Bewohner von Reihenhäusern nachweislich mehr Zeit in ihren Häusern und Gärten verbringen als Bewohner von Geschoßwohnungsbauten, dann ist das ebenfalls ein ökologisch wichtiges Argument für diese Bauform, da damit sinnloser (Pendler-) Verkehr verhindert werden kann.

4W: Inwiefern hat sich die Reihenhaussiedlung in den vergangenen Jahrzehnten verändert?

JR: Wenn man die Häuser aus der Zeit der Wiener Siedlerbewegung aus den 20er-Jahren studiert, dann haben sich doch einige Aspekte verändert. Die Konsumgesellschaft, die sich seit den 50er-Jahren bei uns entwickelt hat, baut im Garten kein Obst oder Gemüse zur Selbstversorgung mehr an. Die Raumgrößen und die sanitäre Ausstattung haben sich ebenfalls deutlich verändert. An den grundlegenden Vorteilen der Reihenhäuser hat sich allerdings nichts geändert.

Wichtig ist, dass auch bei dieser Bauform die zukünftigen Herausforderungen berücksichtigt werden. Dazu zählt etwa, dass Häuser entwickelt werden, bei denen Wohnen und Arbeiten möglich ist. Einen wichtigen Beitrag sehe ich in der Nutzung der Bauteilaktivierung in Kombination mit Geothermie, damit der Wohnbau möglichst rasch karbonfrei wird. Diese Ideen sind nicht neu, haben sich aber bereits im größeren Maßstab bewährt und müssen nun mit Nachdruck umgesetzt werden. Reihenhäuser in verdichteter Bauform bieten sich dafür sehr gut an.

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Datum: 05.07.2022

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