Bea Vogler-Kautz ist Architektin und wohn- und architekturpsychologische Expertin. Sie ist Mitglied beim IWAP (Institut für Wohn- und Architekturpsychologie) und arbeitet zusätzlich bei der Gebietsbetreuung Stadterneuerung im Bereich Planung und Nachbarschaftsarbeit. © Daniela Klemencic

Was kann und muss Wohnpsychologie

Welchen Nutzen hat das Wissen der Psychologie in der Architektur? Wir haben uns mit der Architektin und wohn- und architekturpsychologischen Expertin Beatrix Vogler-Kautz über das komplexe Wechselspiel zwischen Raum und Psyche unterhalten.

4W: Fragt man Menschen nach ihren Wohnwünschen, können sie diese recht genau benennen, zum Beispiel „für jedes Kind ein eigenes Zimmer” oder „ein schöner Garten“. Die Wohnpsychologie geht aber über funktionale und ästhetische Anforderungen hinaus. Worauf liegt ihr Fokus und was sind ihre Ziele?

Bea Vogler-Kautz: Die Wohn- und Architekturpsychologie beschäftigt sich mit der Wirkung von Räumen auf Menschen. Innenräume, Freiräume und Gebäude haben mehr Einfluss auf uns, als wir denken: Sie prägen unser Befinden und Verhalten, Beziehungen, Entwicklungsmöglichkeiten, maßgeblich auch die Gesundheit, Konzentration und Stimmung. Ziel ist es – optimalerweise schon während der Planung – negative Einflüsse der Räume auf die Menschen zu minimieren und die positiven zu verstärken. Bei der Wohn- und Architekturpsychologie geht es insbesondere auch darum, Wünsche in Bedürfnisse zu übersetzen, denn oft sind sich Menschen der Bedürfnisse hinter ihren Wünschen nicht bewusst. Ein Beispiel: Wieso wünsche ich mir einen großen Erker an meinem Haus? Erwarte ich dadurch mehr Licht im Raum oder ist es eine Art Statussymbol, weil mein Erker größer werden soll als der des Nachbarn?

4W: Mit welchen Anliegen kommen Ihre Kunden zu Ihnen?

Sie kommen zunächst nicht unbedingt mit architekturpsychologischen Anliegen zu mir. Ich denke, die Wohn- und Architekturpsychologie ist generell noch zu unbekannt – trotz ihrer großen Potenziale. Ein wichtiger Anwendungsbereich ist etwa die Analyse von bestehenden oder geplanten Projekten. Hier können Wohn- und Architekturpsychologen Bauträger in der Planungsphase sehr gut unterstützen und Gebäude, Wohnungen, Büros oder Siedlungen so optimieren, dass potenziell negative Einflüsse auf die Bewohnerschaft vermieden werden können. Der Mensch steht hier im Zentrum und so soll es auch sein. Der Vorteil für Bauträger und Hausverwaltungen: mehr Wohnzufriedenheit, geringere Fluktuation und weniger Vandalismus.

4W: Aufgrund von Distance Learning und Homeoffice wurde für viele Familien die beengte Wohnsituation zum Problem. Welche wohnpsychologischen Lösungsansätze gibt es hier, wenn ein Umzug in eine größere Wohnung nicht möglich ist?

BVK: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Hier empfehle ich, persönliche Nischen für jede Person zu schaffen. Das muss kein eigener Raum sein, sondern kann ein Schreibtisch im Schlafzimmer oder ein umfunktioniertes Abstelleck sein, das man nach seinen eigenen Wünschen gestalten kann. Wichtig ist die Privatheit, dass man seine Ruhe haben kann, auch akustisch. Für mich sind meine Schallschutzkopfhörer Gold wert.

4W: Kann die Art und Weise, wie wir wohnen, krank machen?

BVK: Ja! Das beginnt mit kaum wahrnehmbaren Auswirkungen, wie größerer Unruhe oder Gereiztheit, und geht hin bis zu Stress, der auf das Wohnumfeld zurückgeführt werden kann. Hier können zum Beispiel sensorischer Lärm und Crowding – Stress, der mangels Zonierung und Distanzen entsteht – psychisch belasten. Im Gegensatz dazu weiß man aus umfangreichen wissenschaftlichen Studien in Krankenhäusern aber auch, dass ein „richtig“ geplantes Umfeld schneller gesund macht. Die Natur spielt hier eine große Rolle. Der Ausblick auf einen Grünraum sowie natürliches Licht beeinflussen uns physisch und psychisch. Die Naturwahrnehmung steigert unsere Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, senkt Stress, Blutdruck sowie Aggression und fördert ein offeneres Sozialverhalten. Selbst Zimmerpflanzen wirken sich erwiesenermaßen erholungsfördernd aus und können einen nicht vorhandenen Ausblick ins Grüne ausgleichen. Notfalls hat übrigens sogar ein Bild mit Naturmotiv nachweislich positive Effekte!

4W: Welche wohnpsychologischen Defizite und Planungsfehler hat der moderne Wohnbau?

BVK: Es gibt viele hochwertige Wohngebäude, gerade im geförderten Wohnbau. Trotzdem wird noch viel zu oft auf Flächenmaximierung gepocht. Gemeinschaftsräume oder Spielräume, von der Bauordnung teilweise sogar gefordert, werden unattraktiv ins letzte Winkerl verbannt. Bei Freiflächen wird oft eingespart, dabei gäbe es viel Potential und Möglichkeitsräume für mehr Aneignung und Mitgestaltung – meiner Meinung nach zwei extrem wichtige Bereiche! Denn wenn Menschen die Möglichkeit haben, sich Freiräume anzueignen, sie selbst zu gestalten, ist die Wahrscheinlichkeit viel geringer, dass es etwa zu Vandalismus kommt.

4W: In den Städten rücken Menschen und Häuser notgedrungen immer näher zusammen. Auf der anderen Seite ist die Vereinsamung ein Problem. Wie kann die Architektur soziale Beziehungen und Begegnungen fördern, ohne dass dabei die räumliche Nähe als störend empfunden wird?

BVK: Indem auf Privatheit und soziale Distanzen geachtet wird. Gemeinschaft kann nur funktionieren, wenn Privatheit funktioniert. Wenn ich aufgrund fehlender Privatheit gestresst bin, reduziert sich auch meine Bereitschaft, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Je kleiner und kompakter die Wohnungen werden, desto wichtiger sind qualitativ hochwertige Freiräume im Wohnumfeld und Gemeinschaftsbereiche. Ein wichtiger Faktor ist die richtige Zonierung: Wie komme ich von der öffentlichen Straße in meine private Wohnung? Halbprivate Zonen wie zum Beispiel rückversetzte Nischen in Gängen eines Wohnhauses sorgen für ein höheres Sicherheitsgefühl und tragen enorm zum Wohlfühlen bei. Die Gestaltung des Wohnumfelds kann der Entwicklung entgegenwirken, dass Menschen vereinsamen, obwohl sie mitten unter Menschen leben. Baugruppen und gemeinschaftliche Wohnkonzepte haben viel Potential, noch sind sie aber häufig privilegierten Bevölkerungsgruppen vorenthalten. Auch Menschen, die keine Stimme in der Öffentlichkeit haben, müssen berücksichtigt werden. Hier sehe ich noch viel Entwicklungspotential.

4W: Ist es überhaupt möglich, die vielfältigen Wohnbedürfnisse aller Bewohner einer Wohnhausanlage zu erfüllen?

BVK: Das ist eine spannende Frage. Einerseits strebt man nach dem Ideal der Vielfalt in einem Wohnprojekt, andererseits sind gerade Baugruppen oft relativ homogen, was der Zusammenarbeit und dem Zusammenleben natürlich zuträglich ist. Alle Bedürfnisse können bestimmt nicht erfüllt werden, schon allein die sich verändernden Bedürfnisse einer einzelnen Familie sind schwer voraussehbar. Homeoffice, Trennung, weitere Kinder, Kinder, die das Nest verlassen, Patchwork-Familien, Älterwerden: die Bedürfnisse ändern sich mit den Lebensphasen. Mit veränderbaren Raumkonfigurationen, sozialer Infrastruktur, Wohnformen für besondere Bedürfnisse usw. kann aber größtmögliche Flexibilität geschaffen werden.

4W: Wie sollten Häuser geplant werden, damit die Menschen heute und in Zukunft „artgerecht” wohnen?

BVK: Wow – das ist eine komplexe Frage! „Humanes Bauen“ ist das Stichwort – es braucht eine ressourcenschonende Planung, die den Menschen und sein Habitat wieder mehr in den Mittelpunkt rückt, Raum für Entwicklung und Vielfalt lässt und auch an Kinder und zukünftige Nutzer denkt. Menschen sollten mitreden und mitgestalten können.

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Datum: 05.07.2022

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