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„Wie kann Zukunft repariert werden?“

Frischer Wind anstelle eines leichten Stadtlüfterls: Angelika Fitz, die mit Anfang Jänner 2017 die Direktion des Architekturzentrum Wien übernommen hat, will das gute Leben in verbauter City-Landschaft wiederfinden. Ihr Aufruf: International denken, Fragen stellen, Mut zeigen, Welt neu gestalten. Ein Gespräch über das Wagnis Stadt und die Wirklichkeit Wiens.

Angelika Fitz fordert Architekten und Planer auf, innezuhalten und nachzudenken – über das Wesen der Stadt und eine Gesellschaft im Umbruch, die nach einem neuen sozialen Fundament und darauf verortbaren Stadtexperimenten sucht.

Architektur im Mittelpunkt: Sie haben in Ihrem ersten öffentlichen Statement als Direktorin des Architekturzentrum Wien vom guten Leben gesprochen, auf das sich Stadtplanung und Architektur wieder rückbesinnen sollten. Was dürfen sich die Angesprochenen darunter vorstellen?

Angelika Fitz, Direktorin des Architekturzentrum Wien: Ich nehme auf keinen Fall für mich in Anspruch, zu definieren, was das gute Leben ist. Als Architekturzentrum und Architekturmuseum wollen wir auch nicht mit dem Zeigefinger auftreten und vorgeben, wie richtige oder gute Bebauung auszusehen hat. Mich interessiert vielmehr die Frage: Was kann Architektur? Wie kann sie gesellschaftspolitisch auftreten, mitgestalten und mitformen?

… um Wege aus der Krise zu zeigen?

Ich habe zu Stadt und Krise sehr viel in südeuropäischen Ländern geforscht. Herausgekommen ist, dass sehr viele Verwerfungen am Immobilien- und Finanzsektor auf ein moralisches Versagen zurückgeführt werden. Viele Menschen sehen die Finanzkrise oder auch die sogenannte „Flüchtlingskrise“ in erster Linie als Solidaritätskrise. Die Idee vom guten Leben – ein fast antikes Motiv – ist folglich wieder am Tapet. Die Definitionen dazu werden sehr unterschiedlich ausfallen. Gut so. Wichtig ist, diesen Anspruch wieder zu stellen. Eine kurze Pause einzulegen; bei der Jagd nach mehr Geld oder Wohnraum. Es gibt auch bei uns erfreulicherweise immer mehr Menschen, die darüber nachdenken. Das finde ich sehr spannend. Es ist ein guter Moment, sich auch in der Architektur wieder grundsätzliche Fragen zu stellen: Wie geht es uns besser? Und was kann die gebaute Architektur dazu beitragen?

In welcher Ausgangslage befindet sich hier beispielsweise Wien? Eine Stadt, die wächst wie schon lange nicht mehr.

Grundsätzlich hat Wien auf vielen Ebenen sehr gute Voraussetzungen. Die beste ist sicher, dass der geförderte Wohnbau nie aus der Hand gegeben wurde. Im Gegensatz zu großen deutschen Städten, wo kurzfristig sehr viel versilbert wurde. Angesichts des starken Wachstums sind nun aber neue Strategien gefragt. Die Gefahr besteht, Wohnsiedlungen anstellen von Quartieren zu bauen. Dessen sind sich aber die Stadtplanung und die Projektentwickler bewusst. Egal ob in den innerstädtischen Entwicklungszonen wie beim Hauptbahnhof und dem Nordbahnhof oder jenseits der Donau in der Seestadt Aspern oder auch in Transdanubien – überall gibt es große Anstrengungen, gemischte Stadt zu erzeugen. Nur ist das sehr schwierig: Die Nachfrage nach Büroraum hinkt nach. Die produktive Stadt – Stichwort: Manufacturing – ist nicht nur eine Frage von gebauter Struktur und räumlichem Angebot, sondern auch von legistischen Rahmenbedingungen und von Management. Es braucht so etwas wie einen „Kümmerer“. Von selber werden es die Wohnbauträger nicht schaffen, was anderes als große Handelsketten hineinzubringen. Es steckt sehr viel Arbeit dahinter, ein funktionierendes Nutzungsmanagement zu etablieren. Doch damit werden Stadtentwicklungsgebiete stehen oder fallen. Es gibt inzwischen einige Konzepte zur Probe- oder Zwischennutzung. Diese Modelle gilt es zu unterstützen. Ganz wichtig ist, voneinander zu lernen. Dafür braucht es aber auch Zeit und Geduld. Es muss auch bauplatzübergreifend gedacht werden – speziell beim nicht kommerziellen Nutzungsangebot, beispielsweise bei Gemeinschaftsräumen. Auch wenn das alles organisatorisch und auch legistisch sehr komplex ist. Eine große Herausforderung ist auch die Bodenpolitik, sprich die Verfügbarkeit von Grundstücken und die mittlerweile stark steigenden Preise.

Ein Aufruf an die politisch Mächtigen, die Weichen neu zu stellen?

Die Frage nach der Macht ist nie ganz einfach zu klären. Stadt war immer schon ein Ort des Kapitals. Man könnte auch zynisch fragen: Wer macht die Stadt? Das Geld! Es hat im europäischen Wohlfahrtsstaat nach 1945 eine starke Ausprägung des Top-down-Ansatzes gegeben. Die Kommune fungierte als Planerin der modernen Stadt – und ist dafür später auch stark kritisiert worden. Inzwischen sind die Stimmen jener, die die Stadt als Verhandlungsraum betrachten, wo alle mitreden sollten, lauter geworden. Doch es stellt sich heraus, dass nicht alle Akteure gleich stark auftreten können. Wer hat eine laute Stimme? Und wer die Ressourcen? Braucht es doch mehr politischen Ausgleich? Zurzeit schwingt das Pendel zwischen den Positionen hin und her.

© Hertha Hurnaus

Welche Visionen finden sich bei jenen, die sich mit Stadtentwicklung beschäftigen? Gibt es so etwas wie einen allgemeinen Trend?

Es ist schwierig, hier zu pauschalisieren. Worauf sich fast alle einigen, ist eine eher kleinteilige, gemischte Stadt. Eine Stadt der kurzen Wege. Eine Stadt, die von oben und von unten entsteht. Dazu gibt es mehrere Herangehensweisen und Versuche. Die Frage ist, wie stark die politischen Vorgaben sein müssen und was über Verhandlungen und Dialog gelöst werden kann. Im großen Maßstab braucht es sicher Vorgaben, denn große Themen, wie zum Beispiel Verkehr, eignen sich besonders gut für das Florianiprinzip: Niemand will eine neue Straße bei sich, aber viele wollen mit dem Auto schnell überall hinkommen. Hier ist es augenscheinlich, dass starke politische Leitlinien und Entscheidungen zwingendermaßen notwendig sind.

Wo steht hier der „Homo Viennensis“? Wie bringt er sich in seine Stadt ein – und wie reagiert diese darauf?

Wien hat die Tradition einer perfekten Versorgung. Insofern gibt es diese reaktive bis passive, konsumistische Haltung. Aber es gibt eine neue Generation, die aktiv mitmachen will. Für Politik und Verwaltung ist es nicht so einfach, im Denken umzuschalten und Türen aufzumachen. Dabei geht es meiner Meinung sicher nicht darum, dass sich die Stadtverwaltung zurückzieht. Sie muss nur neue Schnittstellen schaffen. Erste Brücken in den geförderten Wohnbau sind so ein Beispiel. Baugruppen, die Initiative für Gemeinschaftliches Bauen und Wohnen sind solche Phänomene. Kleinere Projekte haben Katalysatoreffekte für Quartiere; ob das in der Seestadt Aspern ist oder am Nordbahnhof. Ein oder zwei Baugruppen können hier sehr viel Entwicklung anstoßen. Sie haben einen Trickle-down-Effekt in Fragen gemeinschaftlicher Infrastruktur. Ihre Ideen ziehen später schrittweise in den großmaßstäblichen geförderten Wohnbau ein. Man sollte sie also keinesfalls als Orchideen abtun

Wo bleibt hier die Architektur? Versagt ihre Stimme?

Sie hat es im Augenblick wirklich nicht leicht. Auf der einen Seite ist es ein sehr prekärer Bereich, der immer schlechter honoriert wird: Es ist heute nicht einfach, sich ökonomisch am Leben zu halten, gerade wenn man ein kleineres Büro hat. Auf der anderen Seite bekommen Büros immer mehr Verantwortung umgehängt, sprich Haftungs- und Controllingfragen. Die Auflagen werden größer. Ich denke, das ist ein Abbild unserer Gesellschaft, die Vollkaskolösungen einfordert. Der Fetisch „Sicherheit“ wird zementiert. Manch architektonische Seltsamkeiten spiegeln den dahinterstehenden Paragrafendschungel wider. Es ist nicht nur der Architekt, die Architektin, der/die entwirft. Gesetze und Normen sind zu Mitgestaltern geworden. Es gibt natürlich berechtigte Schutzziele und Standards, aber auch wachsende Partikularinteressen. Wir werden diesem Thema unter dem Titel „Form folgt Paragraf“ Ende des Jahres 2017 im Architekturzentrum Wien eine Ausstellung widmen.

Welche Städte sind hier in puncto Planung und Architektur schon einen Schritt voraus?

Keine Stadt macht es perfekt, zum Glück. Die ideale Stadt wäre eine Horrorvision. Unsere europäischen Städte sind schon fast zu fertig gebaut. Ein bisschen was Poröses, Unfertiges und Widersprüchliches sollten Städte schon haben, um interessant zu bleiben. Wenn man die Verkehrspolitik anschaut, sollte man in Richtung Kopenhagen blicken. In puncto Widmungsgewinne in Richtung Basel. Dort finden wir eine Mehrwertabgabe für Aufzonierungen, die in den öffentlichen Raum reinvestiert wird. Mich begeistern auch Projekte im europäischen Süden. Etwa die Neugestaltung entlang des Rio Manzanares in Madrid, wo öffentlicher Raum auf höchstem Niveau gestaltet wurde. Nichts „Medio­kres“, nur das Beste und Schönste für den öffentlichen Raum.

© Jonathan Pielmayer

Welches Projekt müsste in Wien angegangen werden. Oder anders gefragt: Was regt auf – abseits der Debatte um das Thema Heumarkt: Stichwort Weltkulturerbe?

Die Diskussion finde ich spannend, da wieder grundsätzliche Rahmenbedingungen für die Stadtplanung differenziert diskutiert werden. Wichtiger fände ich aber, den Blick nach Transdanubien zu richten. Das Gebiet, wo die Stadt am stärksten wachsen wird. Es ist ein sehr desperates, nicht immer leichtes Gebiet, wo jetzt – ganz unvermeidbar – dichtere Stadt entstehen muss. Wien hat das Problem, dass es auf den 1. Bezirk und die angrenzenden Areale fixiert ist. Polyzentralität funktioniert noch nicht, wie auch das Beispiel Donauplatte zeigt. Aber bereits jetzt gibt es jenseits der Donau mehr als dichte Siedlungen, so etwas wie Teilstücke von Stadt. Diese liegen aber noch nicht auf der mentalen Landkarte. Es gibt immer noch Fachkollegen, die beispielsweise noch nie in der Seestadt waren. Wir müssen erst langsam lernen, über den Cityhorizont hinaus zu denken. Da wird sich noch viel verändern müssen.

Apropos Horizont: Wie findet die Integra­tionsdebatte „Stadt“? Blickt die Szene schon über den architektonischen Tellerrand?

Die Architektur beschäftigt sich auf ganz verschiedenen Ebenen mit dem Integra­tionsgedanken. Ganz vordergründig natürlich mit der Frage nach leistbaren, schnellen Massenunterkünften. Ich möchte hinterfragen, ob dies der richtige Weg ist. Eigentlich geht es doch um kleinteilige, gemischte Strukturen, um Leistbarkeit und Zugänglichkeit für alle. Wo sind ganz grundsätzlich die Räume des Ankommens? In den 1970er- und 1980er-Jahren waren Substandardwohnungen für Neuankömmlinge, etwa aus den Nachbarländern, oder auch für Menschen aus den Bundesländern vielfach die erste Anlaufstelle. Sie sind fast verschwunden. Wien ist ja inzwischen fast durchsaniert. Zum Glück, kann man natürlich sagen. Dafür wohnen heute Menschen wieder zu fünft in einem Zimmer. Weil es keine billigen Quadratmeter mehr gibt. Das trifft die verschiedensten Gruppen, Studierende genauso wie eine Familie aus Syrien oder Alleinerzieherinnen. Man muss sich hüten, das Thema auf eine gewisse Gruppe zu projizieren.

Wie ließe sich hier aktiv gegensteuern?

Entscheidend ist wieder die Bodenpolitik. Die Stadt müsste wieder zu billigeren Grundstücken kommen. Die Frage des Bodens ist eine vielschichtige. Im angelsächsischen Raum entstand die Idee der Community-Landtrusts, die inzwischen auch hierzulande Anhänger findet. Stiftungen, die damit argumentieren, dass der Boden kein vermehrbares Gut sei und folglich auch nicht als Ware behandelt werden dürfe. So ließe sich Spekulation unterbinden. Preise würden einfrieren. An Bauträger oder Initiativen würden dann Grundstücke nicht verkauft, sondern im Baurecht vergeben. Der Boden bliebe Gemeingut.

Ein spannender Ansatz. Welche Debatten werden uns sicher auch noch beschäftigen?

Für mich lassen sich die großen Herausforderungen auf drei Hauptgebiete zuspitzen, die wir auch in den nächsten Jahren im Architekturzentrum immer wieder behandeln möchten. Da ist einmal die Frage des Zusammenlebens in der kulturellen Diversität, die wir zunehmend erleben. Das andere ist die Frage nach Solidarität im Zeitalter sozialer Polarisierung; nach gebauter Verteilungsgerechtigkeit und Leistbarkeit. Und die dritte Frage betrifft das Haushalten mit Ressourcen im weitesten Sinn. Dazu gehört die Stadt der kurzen Wege, die Verkehrspolitik. Aber auch Fragen der Energieeffizienz.

Turner-Preis-Gewinner Assemble in Aktion: soziale Aktivierung, poetische Räume sowie ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit als Zeichen architektonischen Aufbruchs. © Assemble

Wie wollen Sie mit dem Architekturzentrum Wien den Diskurs aktiv mitgestalten?

Es ist viel spannender, die richtigen Fragen zu finden, als gleich mit Lösungen daherzukommen. Wir wollen zeigen, dass Architektur etwas mit großen, gesellschaftlichen Fragen zu tun hat. Wir sagen: Architektur ist nicht nur schönes Gestalten, sondern Gestalten von Welt. Wir wollen jene ins Haus holen, die das Planen und Bauen neu denken. Darum haben wir als erste Ausstellung im Jahr 2017 auch die Turner-Preis-Gewinner Assemble eingeladen: Die Londoner Architekturgruppe beschäftigt sich mit neuen Arten der Partizipation und Kooperation und baut dabei höchst poetische Architektur. Sie wagt Materialexperimente und setzt sich mit Recyclingfragen auseinander, arbeitet mit lokal Vorgefundenem. Das junge Kollektiv ist aber auch Mitgründer mehrerer Sozialunternehmen. Sie zeigen, dass sich Architekten durchaus noch bewegen können. Ihr Credo – „Wir wollen alles umdrehen. Vieles ganz anders machen! – begeistert mich. Ihre Projekte sind Prototypen dafür, wie eine Gesellschaft anders bauen könnte. Mit „Care + Repair“, dem zweiten Schwerpunkt in diesem Sommer, hat das Az W temporär die Mauern des Museums­Quartiers überschritten und einen öffentlichen Arbeitsraum am Nordbahnhof etabliert. Sorgetragen und Reparieren sind, wie Architektur und Urbanismus, konkrete Aktivitäten. Deshalb haben wir sechs international tätige Architekturteams eingeladen, die im Tandem mit lokalen Initiativen und Expertinnen „Care + Repair Prototypen“ entwickeln. Gerade in einem neuen Stadtteil ist es immer auch wichtig, zu schauen: Was ist denn schon da? An Materiellem, an Identität und sozialen Energien. Unsere Grundsatz­frage sollte lauten: Wie kann hier Zukunft repariert werden?

Wie sieht Ihr Bild einer reparierten Zukunft, eines schönen Lebens aus?

Bild ist schon das falsche Wort …

Warum?

Mir geht es um darum, das Denken offen zu halten. Dazu muss man manchmal innehalten, raus aus dem Hamsterrad. Darüber nachdenken, was wichtig ist. Und das ändert sich für mich auch im Laufe der Biografie. Ich habe das Glück, dass meine Arbeit und meine persönlichen Interessen immer sehr ineinandergefallen sind. Aber mir ist klar, dass das nicht der Standard in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft ist.

Was wollen Sie dem Architekturnachwuchs mit auf den Weg geben?

Das enge Korsett, in dem die Architektur aktuell steckt, ist und bleibt ein großes Thema. Einerseits kann man den Jungen nur raten, sich mit Geschichte und vorhandenem Wissen zu beschäftigen. Es muss nicht alles neu erfunden werden. Andererseits empfehle ich, sich mit dem großen gesellschaftlichen Kontext zu beschäftigen. Mut zu haben und zu zeigen, dass man sehr wohl etwas beeinflussen kann, wenn man will; sich die Frechheit nehmen, die Welt neu zusammenzufügen.

Danke für das Gespräch!

Zur Person:

Angelika Fitz ist Kulturtheoretikerin und Kuratorin in den Bereichen Architektur, Kunst und Urbanismus. Seit Jänner 2017 ist sie neue Direktorin des Architekturzentrum Wien. Viele ihrer kuratorischen Projekte stehen als Plattformen für Wissenstransfer und Koproduktion zur Verfügung. 2003 und 2005 kuratierte sie den Österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in São Paulo. Aktuelle Projekte sind u. a. We-Traders. Tausche Krise gegen Stadt und Actopolis. Die Kunst zu handeln.

AutorIn:
Datum: 31.08.2017

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